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Bettina Skrzypczak
Website

Geboren am 25.1.1962 in Poznan (Posen), Polen
1981 Klavierdiplom in Bydgoszcz; Beginn des Musikstudiums an der Musikakademie Poznan
1985 Lizenziat in Musikwissenschaft
1988 Diplom in Komposition bei Andrzej Koszewski
1984-88 Teilnahme an den von der polnischen Sektion der IGNM organisierten Kompositionskursen in Kazimierz, u.a. bei Witold Lutoslawski, Luigi Nono, Henri Pousseur, Iannis Xenakis
1988 Übersiedlung in die Schweiz, Studien in Basel bei Thomas Kessler (elektronische Musik), Rudolf Kelterborn (Komposition) und in Fribourg (Musikwissenschaft)
1990 Computermusikkurs bei Klarenz Barlow in Köln
1990-92 Mitwirkung in einer Gruppe für freie Improvisation in Basel (mit Walter Fähndrich)
1992 Mitglied der Planungsgruppe und Referentin bei Begegnung Polen-Schweiz in Wroclaw
1995 Dozentin für Musikgeschichte, Theorie und Musikästhetik am Konservatorium Luzern
1996 Künstlerische Beratung beim Festival für Neue Musik Krakau
1996 Wahl in den Stiftungsrat des Künstlerhauses Boswil
1999 Konzeption und Leitung eines Kompositionsseminars in Boswil zum Thema "Chaos und Ordnung in der Musik des 20. Jahrhunderts" (Gastkomponist: Dieter Schnebel)
1999 Promotion an der Musikakademie Krakau
Bettina Skrzypczak erhielt Kompositionsaufträge u.a. von: Musikbiennale Venedig, Festival Warschauer Herbst, Radio DRS, Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, Gesellschaft für Kammermusik Basel, Basel Sinfonietta, Basler Madrigalisten, Tage für neue Musik Zürich, Migros-Genossenschaftsbund Zürich. Sie ist Autorin zahlreicher Beiträge über zeitgenössische Musik und Musik aus Polen im Radio und in Fachzeitschriften. Sie lebt in Riehen bei Basel.
Preise
1988 Preis für das Orchesterstück "Verba" beim Wettbewerb für junge Komponisten der Musikbiennale Zabreb
1990 Preis für Schlagzeugtrio im Tadeusz-Baird-Wettbewerb, Warschau
1992 Auszeichnung für das 2. Streichquartett bei der "Tribune internationale des compositeurs", Paris
1994 Preis für das Orchesterstück "Variabile" beim 10. Internationalen Wettbewerb für Komponistinnen, Mannheim
1996 Kulturförderpreis der Stadt Basel
2001 Werkbeitrag von Kanton und Stadt Luzern


Portrait
Wie konstituiert sich musikalische Form in einer Zeit, in der strukturelle Großentwürfe ebenso fragwürdig geworden sind wie deren Gegenmodelle, die spontanen Subjektivismen der siebziger Jahre? Bettina Skrzypczak, die als noch nicht Fünfundzwanzigjährige in Kazimierz, dem "Polnischen Darmstadt", Kurse von Lutoslawski, Pousseur, Nono und Xenakis besuchte und sich diese unterschiedlichen Anregungen in kritisch-selektiver Weise aneignete, beruft sich bei ihrer Antwort auf zwei historisch weit auseinanderliegende Positionen: auf Denker der Frühromantik wie Novalis und Friedrich Schlegel und auf den Konstruktivismus eines Xenakis. "Die künftige Welt ist das vernünftige Chaos" - der Satz von Novalis könnte als Leitgedanke über vielen ihrer Werke der neunziger Jahre stehen. Seine Vorstellung einer hochentwickelten, für den Intellekt aber nur bruchstückhaft erkennbaren und daher geheimnisvoll erscheinenden Ordnung der Welt steht im Hintergrund ihrer Überlegungen zur Organisation des musikalischen Materials.Kompositionstechnisch lehnt sie sich dabei an Verfahren von Iannis Xenakis an, der die Klangmaterie nach mathematischen Gesetzen ordnet. Doch setzt sie die objektiven Gesetzmäßigkeiten immer wieder durch subjektive Eingriffe außer Kraft. Diese erfolgen mit größter Subtilität und vorwiegend in der Mikrostruktur. Die Materialprozesse verlaufen somit diskontinuierlich und asymmetrisch und tragen alle Merkmale des Unvorhersehbaren. Aus der Polarität von Eigendynamik des Materials und subjektiver Setzung resultiert ein Gravitationsfeld, in dem der Klang als fluktuierendes und sich ständig veränderndes Kontinuum erscheint. Es wird von einem vitalen Energiestrom durchflossen und verlangt in seinen satztechnischen Konkretionen von den Interpreten oft einen hohen Grad an kollektiver Virtuosität.Musikalische Struktur ist für Bettina Skrzypczak kein Selbstzweck, sondern Sinnbild für eine verrätselte Welt, die den Prinzipien von Nichtidentität und Unwiederholbarkeit gehorcht. Arbeit an der Struktur ist für sie deshalb auch ein ständiger Versuch, neue Antworten auf alte Fragen zu finden. Hier liegt der tiefere Grund für ihre Affinität zu Novalis’ Vision eines Universums, das dem menschlichen Geist als Abbild des Absoluten und damit als geordnetes Chaos erscheint. Indem sie sich diesen Perspektiven öffnet, kann die Musik die Beschränktheit des Hier und Jetzt momenthaft überwinden. Ihre Prozesshaftigkeit ist somit inhaltlich begründet; die Rationalität eindeutig definierter Strukturen würde nur einengend wirken.Das ganz Andere, Wirklichkeitsumstürzende ist für Bettina Skrzypczak nicht auf dem Weg utopischer Entwürfe und hochfliegender Zukunftsvisionen zu erschließen. Es ist überall und jederzeit in unserem Alltag vorhanden, sagt sie, wir müssen nur die Sensibilität aufbringen, es zu erkennen. Das Medium dieser Erkenntnis ist für sie die Musik. In ihrem frühen, zwischen irisierenden Klangbändern und Eruptionen brüsk wechselnden Orchesterstück "Verba" (1987) geschieht das noch intuitiv. Acht Jahre später, im Orchesterstück "SN 1993 J", ist es ein auskomponierter Bewusstseinsprozess. Das Werk reflektiert ein Phänomen jenseits aller menschlichen Erfahrung - das kosmische Schauspiel einer neuentdeckten Supernova; die in vibrierenden Klangmassen und heftigen Ausbrüchen freigesetzte Energie bricht sich zum Schluß in der "kleinen Perspektive" eines flüchtigen Flötensolos. Anders wiederum das Chorwerk "Acaso" mit Textfragmenten, die das Thema "Traum" umkreisen. Es läßt ineinander verschachtelte harmonische Räume entstehen: Erweiterung des Horizonts nach innen.Nach schnellen und vielversprechenden Anfangserfolgen in Polen übersiedelte Bettina Skrzypczak sechsundzwanzigjährig in die Schweiz. Hier wurde sie nachhaltig gefördert und in das Musikleben integriert; von hier aus erschließen sich ihr nach und nach auch die andern westeuropäischen Länder. Doch hat sie sich ihren polnischen Ursprüngen nicht entfremdet. Das hört man schon ihrer Musik an, die - ganz in der Tradition der polnischen Moderne stehend - sich mit ihrem Farbenreichtum mehr am Klangverständnis eines Debussy und Varèse orientiert als am Strukturdenken der Wiener Schule und des Serialismus. Aber auch von ihren persönlichen und familiären Wurzeln her ist sie durch und durch Polin. Sie stammt aus einer alten polnischen Familie mit engen Verbindungen mit der künstlerischen Elite Polens. Ihre ersten künstlerischen Schritte machte sie als Studentin in Posen, in einem kulturellen Milieu, das von lebhaftem Austausch zwischen den Künsten geprägt war und aus dem bedeutende Impulse zur Herausbildung einer neuen postkommunistischen Identität Polens kamen. Mit ihrer Promotion in den Fächern Musik und Philosophie in Krakau wandte sie sich 1999 erneut ihrer Heimat zu, ohne jedoch ihre Aktivitäten im Westen einzuschränken. Die Rolle eines Brückenbauers zu Westeuropa haben seit dem 19. Jahrhundert viele polnische Künstler erfüllt. Bettina Skrzypczak gehört zu denjenigen, die diese Tradition heute an prominenter Stelle weiterführen.
© 1999 Max Nyffeler

Dokumentation
Erste Internationale Komponistinnentage für Neue Musik